Alt und grau
Bis heute kann ich nicht sagen, wo unsere Geschichte, die jetzt nur noch meine Geschichte ist, genau anfängt. Aber wo sie endet, das weiß ich.
Eigentlich komme ich ja gut zurecht. Jetzt mal abgesehen von den schlaflosen Nächten und den kurzen Momenten, die sich so über den Tag verteilen, wenn mir plötzlich die Luft wegbleibt und mein Herz anfängt zu rasen und ich für einen Augenblick vergessen hab, wo und wer ich bin. Abgesehen von den Abenden, an denen Alleinsein sich unerträglich schwer anfühlt und ich stundendlang ziellos durch die Gegend laufe, die Musik in meinem Ohr so laut aufgedreht, dass sie all meine Gedanken übertönt. Abgesehen von den Tagesanbrüchen, wenn ich aus meinem erschöpften Schlaf erwache und mich fühle, als hätte mich jemand, der nicht die geringste Ahnung von menschlicher Anatomie hat, auseinander genommen und wieder zusammengesetzt. Ja, abgesehen davon komme ich wirklich gut zurecht, seit du weg bist.
Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem wir unseren
Pakt schlossen. Ein Frühlingstag, einer von der Sorte an dem die Vögel sich die
Lunge aus dem Leib zwitscherten und die Sonnenstrahlen auf der Nase kitzelten.
Damals standen wir da, auf unserer Lichtung in unserem Wald und du hieltest
meine Hände ganz fest in deinen, so wie immer, wenn ich Trost bei dir gesucht
hatte. Noch nie hatte es einen anderen Menschen gegeben, der mich trösten
konnte wie du es konntest. Noch nie hatte es überhaupt einen anderen Menschen
gegeben, mit dem ich meinen kindlichen Schmerz geteilt hatte. Mein ganzes Leben
lang gab es nur dich. Keinen einzigen Tag in unseren Leben hatten wir jemals
getrennt verbracht. Nicht einen. Jeder von uns beiden aus unterschiedlichen
Familien, die beide so kaputt waren, dass ich gar nicht wissen will was aus uns
geworden wäre, hätten wir einander nicht gehabt. Wir waren eine Einheit, wie
wir da standen auf unserer Lichtung in unserem Wald, und du meine Hände
hieltest und feierlich schworst, immer bei mir zu bleiben. Bis wir alt und grau
sind, sagtest du. Alt und grau. Hätte ich damals gewusst, wie schnell du deinen
Schwur brechen würdest, ich hätte den Rest meines Lebens mit dir auf dieser
Lichtung verbracht.
Wie schnell die Zeit vergangen ist seit diesem Moment. Wie schnell wir älter
wurden und Visionen hatten und Pläne schmiedeten und immer fester
zusammenwuchsen, mit jedem Tag. Wir dachten wir hätten alle Zeit unseres
Lebens. Niemals wäre uns in den Sinn gekommen, dass du mich verlassen würdest.
Schließlich hatten wir niemanden außer uns.
Aber irgendwann hast du es doch getan. Einfach so, ohne Vorwarnung. So plötzlich, dass ich es erst kaum bemerke. Im einen Moment gehen wir noch Hand in Hand nebeneinander her. Im nächsten spüre ich, wie du loslässt, sehe wie du auf die Straße rennst, höre wie du auf dem Asphalt aufschlägst. Es dauert ein paar Minuten, bis ich begreife, dass du fort bist. Dass du gegangen bist, ohne ein Wort des Abschieds. Dass du mich zurückgelassen hast. Dass ich von jetzt an allein war.
Es war nicht leicht für mich, ohne dich weiterzuleben. Ehrlich gesagt war es die Hölle. Aber irgendwann hab ich mich daran gewöhnt. Irgendwann hab ich mich daran gewöhnt, dass ich nur noch halb bin. So, wie andere Menschen einen Arm oder ein Bein verlieren, habe ich dich als einen Teil von mir verloren. So, wie andere Menschen lernen müssen, ohne ihren Arm oder ihr Bein zurechtzukommen, lernte ich ohne dich zurechtzukommen. Und heute, ja heute komme ich abgesehen von ein paar Kleinigkeiten, wirklich gut zurecht.
Und manchmal, da kann ich dich wiederfinden. In den Gesichtern von anderen Menschen. Manchmal sitzt einer vor mir in der Ubahn und sieht mich aus deinen schokoldenbraunen Augen an. Manchmal steht einer am anderen Ende der Bar und wirft mir dein Lächeln zu. Manchmal hält einer meine Hände, so wie du sie hieltest. Und manchmal, da kommst du mich besuchen, nachts, und vertreibst die Bilder, damit ich ruhig schlafen kann.
Kommentare
da gibt es nichts hinzuzufügen
18.08.2014, 16:16 von tunitrifft mich mitten ins herz...es gibt menschen die nie wirklich gehn....wir nehmen sie immer in unsern herzen mit.
28.07.2014, 17:25 von autumn_rain87unglaublich traurig und dennoch sehr schöne Worte dafür gefunden.
04.07.2014, 17:35 von livinggoldairschön, vor allem das ende. gibt einem diesen funken Hoffnung zurück.
30.06.2014, 10:43 von traumzeichnerinDanke, dass nach diesen endlos vielen Leerzeilen noch ein versöhnliches Ende kommt. Schön, dass er noch da ist, nur einen anderen Aggregatzustand angenommen hat. Ich glaube daran.
29.06.2014, 23:39 von LiaLenzingEigentlich mag ich den Text ja.
Danke! :)
Ich bin echt zu doof. Vielleicht muss ich mal Literatur oder so was studieren.
27.06.2014, 17:43 von LifeInANickSchreiben kannste ja, da kann ich nix sagen. Und bis zur Mitte hattest du mich. Bis zu dem "Eiskalte Engel" Unfall, danach war ich raus.
Hat er die Protagonistin jetzt verlassen, oder ist er gestorben?
Ich literarischer Tölpel ich... tztztz.
Naja, sein Sterben hat sie eben als verlassenwerden empfunden
27.06.2014, 18:39 von alinalunaAlso gestorben, *puh*, ich dachte schon ich hab's nicht geschnallt. Merci
27.06.2014, 18:51 von LifeInANickIch war mir zunächst auch unsicher .. der Hinweis mit dem "auf Asphalt aufschlagen" ist ja da, aber ... na ja, jedenfalls nimmt mich die Geschichte vor dem Hintergrund doch ziemlich mit. Vielleicht ist es etwas unpassend ... ich mag jetzt nicht so altkluge Sprüche wie "die Zeit heilt alle Wunden" von mir geben, aber den
28.06.2014, 09:30 von CyroLink auf das passende Lied dazu schon. Das höre ich gerade...
und auch wie andere Trauer verarbeiten, beispielsweise die hier ), die einen Freund verloren
haben. Na ja, wie gesagt, Worte reichen nicht, doch Schweigen wollte
ich zu diesem Text auch nicht.